Der Weg ist das Ziel
Das Wandern und Laufen liegt uns im Blut. Unser Körper ist dafür ausgelegt täglich lange Strecken zurückzulegen, um nach Nahrung zu suchen. Das ist wohl der Grund, warum viele Medaillengewinner auf dem Siegerfoto in die Trophäe hineinbeißen. Der Start wurde vom Veranstalter kurzfristig eine
Stunde nach hinten verlegt. So starteten wir um 17:00 Uhr zu fünft. Eine Läuferin hatte während der Vorbereitungszeit entschieden den Wandermarathon nicht mitzulaufen und die Reise nach Berlin nicht anzutreten. Über eintausend Starter wurden zu verschiedenen Startzeiten auf die Strecke geschickt. Wir starteten im hinteren Drittel. Ich persönlich fand dies gar nicht so schlecht. In einer der ersten Gruppe zu starten birgt die Gefahr irgendwann von den schnelleren Wandern überholt zu werden, das würde wohl nicht zur Motivation beitragen. Wir dagegen hatten nun allen Grund unser Tempo zu halten, wollten wir den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren. Vor uns lagen also 5 km pro Stunde, macht 20 Stunden plus Pausen. Organisiert war alle 20 km eine Verpflegungsstation. Wir liefen in die Nacht hinein, so konnten wir uns behutsam an die Dunkelheit gewöhnen und unsere Trainingserfahrung bei einem Nachtmarsch im Lautertal, half uns wirklich gutgelaunt dem Dunkel entgegen zu gehen. Unser erstes Ziel war erst einmal durch die Nacht zu kommen. Denn dann war klar, wir hatten die Hälfte geschafft.
In unserer Vorbereitungszeit trainierte ich meinen Geist mit einer Meditationsapp. Atmen in Verbindung mit positiven Gedanken kann wirklich eine Menge bewirken. Ständig wurde mir suggeriert die Komfortzone zu verlassen. Das Thema Achtsamkeit tauchte wie ein Mantra vor meinem inneren Auge auf. Ziele zu erreichen würde einen beflügeln und auf weitere Ziele vorbereiten; Herausforderungen zu überstehen soll einem auch Kraft für den Alltag geben; einfach mal was aushalten und ähnliche Gedanken begleiteten mich auf meiner Strecke. Ich war mir allerdings nicht sicher ob ich wirklich über mich selbst hinauswachsen wollte. Bei einer Körpergröße von 1,80 m ist es durchaus berechtigt hier mal kurz zu zweifeln. Zumal mich im Ziel angekommen sicher niemand zum Ritter schlagen würde. Eine Medaille zu erhalten, hilft auch nicht wirklich dabei, den inneren Schweinehund davon zu überzeugen, einfach weiterzugehen. Eher pragmatische Argumente wie z.B.: Je länger du läufst, desto billiger wird das Taxi ins Hotel.
Die nächsten Stunden bestanden also aus Laufen, Laufen und Laufen. Es stellte sich heraus, dass die Strecke selbst mit äußerst motivierenden Argumenten für ein voran-kommen sorgte. Der Weg war das Ziel. Die Vorfreude auf einen Sonnenaufgang brachte mich durch die Nacht und die enttäuschende Erkenntnis, dass der Sonnen-untergang am Abend deutlich spektakulärer war. Um weiter zu laufen brauchte ich eine neue Motivation. Und als ob mich jemand erhört hätte, tauchten sie am Horizont auf. Humpelnde Männer sind sehr motivierend, besonders wenn sie noch deutlich jünger sind. Während ich mit meiner Begleitung einen Invaliden nach dem anderen „ein-kassierte“, rückte unsere 3. Verpflegungs-station (VPS) bei 60 Kilometer in greifbare Nähe. Irritiert fragten wir die uns plötzlich entgegenkommenden Läufer wo die nächste „Pflegestation“ ist. Nächste links 10 Meter, mit breitem Grinsen, war die Antwort. Es waren die Läufer, die bereits pausiert hatten und sich auf den restlichen Weg gemacht hatten. Die VPS lag in einer Sackgasse mit angrenzendem Sportplatz und wurde für uns zur „Pflegestation“. Hier trafen wir auch unsere anderen beiden Läuferinnen, die wenigen Minuten vor uns eingetroffen waren. Eine Läuferin war zu diesem Zeitpunkt an der 2. VPS bei 40 km bereits ausgestiegen. Während der Pause zeigte sich, dass wir den Rest der Strecke nur noch zu dritt weiterlaufen würden. Ich musste mich, mit dem Versprechen bis ins Ziel zu laufen, von meiner Wanderbegleitung verabschieden und dachte die restlichen 40 km an die verbrachte Nacht mit ihr. Sie war die jüngste im Team und wir hatten in dieser Nacht wirklich viel zu lachen. Und obwohl sie sich unterwegs eine Zerrung geholt hatte, kämpfte sie sich schimpfend, lachend und humpelnd zur 3. VPS um dann ihre Urkunde für 60 km entgegen zu nehmen. In dieser Nacht hat sich gezeigt, dass es durchaus von Vorteil sein kann, auf zwei verschiedene Mobilfunkanbieter zu setzen. Teilweise Netzausfälle konnten so jeweils überbrückt werden und halfen uns nachts bei der Streckensuche. Wohingegen ein Joint und Rotwein aus der Flasche sicher nicht helfen. Mir ist nicht bekannt ob die beiden gutgelaunten jungen Männer das Ziel erreicht haben. Spaß hatten sie aber auf jeden Fall.
Die 4. VPS stellte sich als unser größtes Hindernis heraus. Wir hatten mittlerweile 18 Stunden in den Beinen und die Station war nicht zu finden. Ein weitläufiger Park versuchte uns in die Irre zu führen. Gedanken nach einem Taxi und dem Abbruch der Wanderung kamen auf. Doch ich hielt diesem scheiß Köter im inneren meines Körpers stand und riss mich zusammen. Mit der entspannten Achtsamkeit war es vorbei. Wo ist diese verfickte 4. VPS? Eine Mischung aus missverständlicher Streckenführung und nunmehr 30 Stunden Schlafentzug sorgten für die entsprechende Verwirrung. Trinken könnte helfen! Einige kräftige Züge aus meiner Trinkblase brachten das Gehirn wieder vom Ruhe- in den Arbeitsmodus. Und da war sie, die 4. VPS! Eine kleine Gaststätte mit Biergarten und Bedienung sorgte für schlagartig bessere Stimmung. Eine richtige Toilette, fließend Wasser zum Händewaschen und einen servierten Latte Macchiato hätten in diesem Moment das Leben nicht schöner machen können. Tatsächlich war die 4. VPS vom Veranstalter bei 83 km angesetzt. Daher kam, bei Streckenkilometer 80, Panik bei uns auf. Hätten wir vorher gewusst, was uns erwartet, wir wären dafür wahrscheinlich noch fünf Kilometer weitergelaufen. Coffein gehört zu den Psychoaktiven Substanzen mit stimulierender Wirkung. Nach 30 Stunden fasten, außer drei Bananen und zwei Käsebrote, konnte die Latte Macchiato ihre Wirkung voll entfalten. Coffein beeinflusst die Aktivität der Nerven und ist die am häufigste konsumierte pharmakologisch aktive Substanz. Jetzt weiß ich warum. Also entschieden wir weiter zu laufen. Wir hatten praktisch noch vier Stunden Zeit um die letzten 17 km zu bezwingen. Und ich hatte ja noch ein Versprechen gegeben. Mehr oder weniger gemeinsam setzten wir einen Fuß vor den anderen und erwarteten sehnsüchtig die letzte 10 km Markierung. Bei Kilometer 95 kippte die Müdigkeit in Euphorie um. Von da an fotografierten wir jede Hinweistafel auf der noch verbleibenden Strecke und der Abstand zu einander war auf körpernähe geschrumpft. Wir, als die letzten drei verbliebenen Läuferinnen, wollten das Ziel auf jeden Fall gemeinsam erreichen.
Wie ich physisch die letzten Kilometer hinter mich brachte, kann ich gar nicht mehr genau sagen.
Mein Körper jedenfalls gab keine Signale mehr und folgte nur noch dem Kopf und meinem unbändigen Willen das Ziel erreichen zu wollen. Am Ende ging dann alles sehr schnell. Ziel gesehen, durchgelaufen, Medaille in Empfang genommen, nicht reingebissen, Urkunde geholt, Wanderpass abstempeln lassen und ab in die S-Bahn mit dem direkten Ziel in die Ferienwohnung, wo unsere anderen zwei Läuferinnen entspannten. Sie hatten zwischenzeitlich relaxt, gebadet und geschlafen. Und genau das wollte ich jetzt auch. Essen wird völlig überbewertet.
Erkenntnisse
Du bist in der Lage 83 km am Stück zu gehen und schreckst vor weiteren 17 km zurück. Du bist nicht wirklich auf Nahrungssuche. Trinken hingegen ist essentiell. Die darauffolgenden Tage, zu Hause, war mein Magen nicht wirklich bereit zu arbeiten. Meine Regenerationsphase nahm alle Körperfunktionen in Anspruch. Lediglich Vanilleeis konnte ich genießen. Ernährungstechnisch natürlich völlig be-scheuert, aber durchaus erklärbar. Es war kalt, füllte die Kohlenhydratspeicher und spendete schnellen Zucker fürs Gehirn. Mein Darm hatte so gut wie nichts zu tun, was ich als sehr erholsam empfand. Mein Fortbewegungstempo sollte die nächsten Tage nicht mal für eine Ampelphase ausreichen. Und Treppenstufen waren unüberwindbar. Es zeigte sich erst am Tag zwei welcher körperlichen Anstrengung ich mich ausgesetzt hatte. Meine Füße und Beine waren geschwollen und sehnten sich nach Kühlung. Ich gähnte ununterbrochen, als ich als einzige auf der Verkehrsinsel stand um auf die nächste Grünphase zu warten. Ich muss wirklich ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Gott sei Dank nutzte die Rheinpfalz bei ihrem erneuten Bericht über unseren Erfolg ein Foto der drei Medaillen für 100/24. Wenn du dich einer solchen Herausforderung stellst und sie dir gelingt, dann stärkt dich das.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt allerdings Zweifel, ob meine Kraft jemals wieder vollständig hergestellt werden konnte. Sie konnte! Nach vierzehn Tagen war ich wieder ganz die alte. Aber etwas hatte sich verändert. Größer war ich nicht geworden, aber drei Kilo leichter. Mich hat es noch toleranter gegenüber Veränderungen gemacht. Zugfahren mit der Deutschen Bahn kann eine solche Herausforderung sein. Kurzfristige Planänderungen oder Sitzplanänderungen bringen mich nicht mehr aus der Ruhe. Ich weiß heute, egal was passiert, irgendwann komme ich an. Und ich liebe Zugfahren, je überraschender die Reise verläuft, desto besser. Erzähle das nicht der Deutschen Bahn. Es macht große Freude den eigenen Stärken und Leidenschaften Raum zu geben. Wandern ist immer auch ein Weg zu sich selbst. Unzählige Absolventen des Jakobweges berichten darüber. Und meine Achtsamkeit, bei Kilometer 80 in lautes Fluchen verwandelt, kam wieder zurück. Das berauschende Gefühl einer Latte Macchiato kann ich heute noch hervorrufen und ich bevorzuge noch immer die Treppen. Allerdings, der Sinn einer roten LED Rücklichtlampe am Rucksack erschließt sich mir bis heute nicht. Und Bluetooth Lautsprecher beim Wandern werde ich wohl nie tolerieren können. Ich hatte wirklich ausreichend Gelegenheit sämtliche Stilrichtungen von bayrischer Volksmusik über Schlager, Pop, Rock bis Heavy Metal ausgiebig und unverlangt zu genießen. Es nervt mich einfach nur und stört mich beim denken und laufen. Es bringt mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus dem Takt.
Wandern zeigt dir nicht nur deine Stärken, sondern auch deine Schwächen. Weitere Megamarsch
Wanderungen in Stuttgart, Dresden und Düsseldorf mit jeweils 50 km Streckenlänge in 12 Stunden sollten folgen. Im November dieses Jahr werde ich meinen vierten 50 km Megamarsch in Nürnberg laufen. Meine eigenen Schwächen und die meiner Mitmenschen zu akzeptieren bleibt aber wohl meine größte Herausforderung.
Zum ersten Teil des Blogbeitrags geht es hier: https://www.megamarsch.de/post/erfahrungsbericht-von-patrizia-1-2
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